Leseproben

Die Schlucht der freien Hunde

Kapitel 1
Unsere Schlucht

 
Der Sommer ist da. Die beste Zeit des Jahres! Im Winter ist das Leben einfach nur hart. Selbst wenn du auf der Straße was Essbares findest, ist es so durchgefroren, dass du dir daran die Zähne ausbeißt.

Außerdem ist im Winter nichts los. Da muss man schon dankbar sein, wenn die Kinder mal Schlitten fahren und für ein bisschen Abwechslung sorgen. Dann kann man hinter ihnen herlaufen, springen und bellen.

Einer von uns war mal zum Jagen im Wald. Dort sind so viele Spuren, dass das Hundeherz höher schlägt.

Aber das ist im Wald. Wenn bei uns in der Schlucht mal wer eine Spur hinterlässt, dann ist das irgendein Kater, den sowieso jeder kennt. Hier sind nur Menschenspuren, Vogeltapser und Langlaufloipen. Wenn über Nacht Neuschnee fällt, ist wenigstens alles sauber und weiß.

Im Sommer ist definitiv alles besser. Das Gras steht hoch, die Blumen lassen die Köpfchen wackeln und alles ist voller Gerüche. Die Nase hört gar nicht mehr auf zu jucken.
Unsere Schlucht ist schön, groß und unendlich weit. Wenn du sie einmal durchlaufen willst, ist das eine richtige Wanderung. Am Rand wachsen Sträucher und Bäume. Da leben die
Krähen und Raben. Ihre Häuser sehen wie Körbe aus. Eine Hundehütte ist natürlich besser, aber nicht jeder Hund hat nun mal ein Zuhause.

Ich kenne hier jedes Erdloch. Durch die Schlucht fließt ein Bach. Im Sommer ist er fast ausgetrocknet, aber der Boden ist feucht, und es gibt kleine Tümpel. Das Gras wächst hier bis zu den Ohren. Es gibt viele Mücken und die Frösche quaken vergnügt.

In der Schlucht liegt alles mögliche 'rum: alte Latschen und Fausthandschuhe, Autoreifen, Bälle und Bretter.

Smarty hat einen alten knautschigen Hut gefunden, den er sich gern auf den Kopf setzt. Und Krümel hat 'ne alte Obstkiste zum Schlafen. Die riecht noch immer nach Äpfeln, aber er träumt von Fleischklopsen.

Ich selbst hab' mal einen Goldring gefunden. Als ich an ihm gerochen hab', war mir gleich klar, dass das ein guter Mensch war, der ihn getragen hat. Ich weiß nur nicht, warum er ihn in die Schlucht gelegt hat.

Um die Schlucht herum stehen große weiße Häuser, hinter denen noch mehr Häuser stehen. Dort hupen die Autos und nachts erhebt sich ein Feuerschein.
Mit jedem Sommer wird unsere Schlucht kleiner. Diesen Frühling wurden schon wieder Unmengen Kies, Sand und Lehm abgeschüttet. Da soll noch ein Haus gebaut werden.

Unsereins schimpft natürlich. Haben die sonst keinen Platz? Warum gerade in unserer Schlucht? Wo sollen wir Hunde denn hin?

Aber wer hört schon auf uns?

Besonders liebe ich unsere Schlucht nachts. Von ihrem tiefen Grund aus siehst du die Sterne am nachtschwarzen Himmel strahlen. Sie hängen sehr hoch. Du kannst noch so hoch springen, du kannst sie doch nie erreichen.

Wenn am Himmel der bleiche Mond steht, läuft dir ein Schauer über den Rücken und dein Fell sträubt sich. Und wenn du im Mondschein schläfst, hast du Träume, die deinem Herzen einen wohligen Stich versetzen.

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